Wir möchten Einblick geben

Diese Fallbeispiele können aufzeigen, wie vielschichtig die ernährungs-therapeutische Begleitung bei Menschen mit Behinderung aussehen kann. Sie geben Einblick und sollen Ideenspender sein, haben aber keinen Anspruch auf eine vollständig Abbildung der Situation. 

Beispiel 1: allgemeine Ernährungsrichtlinien sind nicht anwendbar

Zwei ca. 25 jährige Bewohner haben die gleiche Grunddiagnose und eine sehr ähnliche Situation. Beide werden sondiert. Gewicht im unteren Bereich, aber über 18,5 kg/m2.

 Der junge Herr braucht 1800 kcal, sie nur 400 kcal.
Bei 400 kcal Sondennahrung ist der Eiweissbedarf und die Vitamin- und Mineralstoffempfehlung nicht gedeckt. Eine modulare Ergänzung ist nötig.
Nach Aspiration wurde die junge Frau ins Spital verlegt. Die dortige ERB erstellte einen Sondenplan gemäss allgemeinen Bedarfszahlen: 1800 kcal.

Mit diesem Plan würde sie sehr schnell zunehmen, was in ihrem Fall (massive Skoliose) nicht sinnvoll ist.

 

Beispiel 2: kognitive und sonstige Entwicklung bei guter Nährstoffabdeckung

18 Jähriger kommt neu in Wohnheim. Wurde vorher vollumfänglich von der Mutter gepflegt.

Schwere Mehrfachbehinderung. Eine Grössenanlayse wurde gemacht (Vater ist scheinbar sehr gross). Die Spezialisten bestätigten, dass der junge Mann ausgewachsen ist. Er hat einen BMI von 13 kg/m2

Nach 1 Jahr im Wohnheim beschloss die Heimärztin mit der ERB, dass die Situation so nicht mehr tragbar ist. Er kann zu wenig oral essen, auch mögliche Ergänzungen mit Trinknahrung brachten keine ausreichende Gewichtszunahme. Der Energiebedarf ist zu hoch. Die benötigte lange  Essenzeit ist auch belastend für die Wohngruppe. Die Mutter gab das ok für eine PEG-Anlage.
Nach 1 Jahr Nahrung über Sonde (Essen wurde weiterhin angeboten) hat er 15 kg zugenommen und zur aller Überraschung ist er noch gewachsen. Er wirkt im Ganzen zufriedener, lacht viel, ist neugieriger und in der Physiotherapie etc. macht er Fortschritte. Sein BMI nun 18 kg/m2.

Beispiel 3: jahrelanges Leiden – nötig?   oder gewusst wie

49 jähriger Mann in Wohngruppe leidet seit Jahren an Obstipation. Er ist im Rollstuhl und hat wenig Körpertonus.
Wenn Nerven- und Muskel-strukturen durch die Behinderung beeinträchtigt sind, gibt es meist auch ein Stuhlgangproblem.
Der Bewohner isst kein Gemüse, Salat hat er gern und Früchte isst er mal – mal isst er sie nicht. Vollkornbrot ist keine Regel auf der Wohngruppe. Die Trinkmenge ist auch eher knapp (Betreuer-abhängig)

Er wurde mit diversen Abführmittel und Einläufen jahrelang behandelt. Aber der WC-Gang war immer eine sichtbare Qual und dauert extrem lang.

Durch die Beratung einer ERB wurde das Optifibre (lösliche Fasern) empfohlen. Zu Beginn wurden 10 ML (einschleichend) gegeben (8 ML sind der Tagesbedarf an Fasern). Nach 2 Jahren wurde auf 8 ML reduziert.

Daneben wird am Morgen nun mehrheitlich Vollkornbrot oder Müesli gegeben. Im Müesli werden die Früchte gut akzeptiert. Die Flüssigkeitszufuhr wird achtsamer begleitet und funktioniert nun auch besser.

Daneben wird auch akzeptiert, dass er kein Gemüse isst (Druck wegnehmen).
Und der Stuhlgang? ca. 2x pro Woche weicher Stuhl ohne Schmerzen, innert paar Minuten, Abführmittel wird weggelassen, 1x pro Woche Einlauf (Entleerungsstörung im Enddarm).


Beispiel 4: Diabetes - gezuckerte Getränke nicht empfohlen

40 jähriger Mann mit Downsyndrom auf Wohngruppe hat neu einen Diabetes. Auf der Wohngruppe sind gezuckerte Getränke üblich. Er allein soll darauf verzichten. Das gibt Spannung und ist nicht umsetzbar. Er kauft auch selber mit seinem Taschengeld gezuckerte Getränke.  Anlässlich einer Teamsitzung mit der Ernährungsberatung (ERB) entstand die Idee, ein Wochenthema daraus zu machen. Alle Bewohner waren eingeladen, neue zuckerfreie Getränke zu probieren. Da wurde z.B. in Wasser Fruchtstücke, Zimtstange u.a. eingelegt. In schönen grossen Flaschen, die gefunden wurden, kommen die Fruchtstücke gut zur Geltung. Kalter Tee (Ideenspende von der ERB) wurde angesetzt. Vorgängig im Teeladen in der nahen Stadt mit 2 delegierten Bewohner wurde neue Teesorten gesucht.  Und weitere Ideen kamen von den Bewohnenden. Das Ganze wurde fotografiert und in einem Wohlfühlordner abgelegt. Also über 1 Woche war die Wahl der Getränke Thema. Am Schluss wurden die gezuckerten Getränke verbannt. Aus dem neuen Angebot fand jeder Bewohnende eine gute Alternative.

Spannend und für das Betreuerteam nicht erwartet war, mit welcher Freude und mit welchem Engagement die Bewohner mitmachten. Jeder wie er konnte, jeder so viel wie er wollte.  Das ist gelebte Partizipation mit fachlicher Grundlagen (Gemeinschaftsverpflegung, Führsorgepflicht, Ernährungstherapie).

Das gleiche wurde dann mit den abendlichen Wochenmenüs angegangen. Gab es bisher Resten vom Mittag, evt. ergänzt mit Wurst und Brot, war aus den Beratungsgespräche mit der ERB allen klar, dass dies keine optimale Mahlzeitengestaltung ist. Neu kreirte eine FAGE in Ausbildung 20 geeignete Nachtessen (Grundlage von ERB). Ziel: einfach zu kochen, Bewohnende können bei der Zubereitung einbezogen werden, Lieblingsspeisen kommen moderat und gute gestaltet vor. Auch hier wieder wurde in einem Wochenthema die Menüs mit den Bewohner angeschaut, z.T. auch schon gekocht. Die Akzeptanz war gross. Anpassungen werden laufend gemacht.

Modell für die Betreuung unterstützender Personen in Institutionen  gemäss Lebensqualitätskonzept

Auf der Grundlage des Lebensqualitätsmodells werden konkrete Massnahmen zur Sicherung und Steigerung der Lebensqualität erarbeitet. Dies geschieht stets unter dem grösstmöglichen Einbezug der Personen mit Unterstützungsbedarf und setzt deren Einverständnis und konstruktive Mitwirkung voraus. Jedes der drei Beispiele wird in einzelnen Handlungsschritten entwickelt, wobei diese Schritte mit den in der Konzeption erarbeiteten Voraussetzungen und Bedingungen in Beziehung gesetzt werden. Der Umsetzung/Anwendung vorangestellt ist immer die Fallschilderung einer Betreuungsperson, welche dem Team die Umstände einer zu unterstützenden Person schildert. Die dann folgende Diskussion wird gemäss Modell in fünf Bearbeitungsschritte unterteilt:
Schritt 1: Themen festlegen
Schritt 2: Den Themen Kategorien zuordnen
Schritt 3: Diskussionsrahmen festlegen, Interventions-marker definierenSchritt
4: Massnahmen planen und umsetzenSchritt
5: Massnahmen evaluieren
Alle diese fünf Schritte werden zusammen mit der zu unterstützenden Person oder ihrer Stellvertretung vorgenommen.

lebensqualitaetskonzeption__curaviva_schweiz__2017.pdf